„Wenn‘s um’s Meckern geht, dann bin ich die Falsche“ 

Ela geht beinahe als gewöhnliche Berlinerin durch. Sie trifft Freund:innen, macht Wäsche, hat Kinder, arbeitet. Was Ela nicht hat: eine Wohnung.

Eine Frau fährt auf dem Fahrrad vor dem Unterschlupf, eine Tagesanlaufstelle für wohnungslose Frauen, vorbei. Die Hauswand ist voller Graffiti, über dem Fenster hängt ein Banner mit der Aufschrift "Hilfe, wir müssen wir raus!"

© Toni Quell, Der Unterschlupf ist eine Kreuzberger Tagesanlaufstelle für wohnungslose Frauen*.

 „Obdachlos ist, wenn du kein Dach überm Kopf hast. Nicht jeder, der wohnungslos ist, schläft auch draußen. Frauen schlafen gerne bei Männern. Erstmal die Familie, dann die Freunde, dann fliegen sie da raus, dann nehmen sie einen Mann, fliegen da raus, nehmen den nächsten Mann. Bis sie dann auf der Straße landen, sind sie durch ein paar Höllen gegangen. Deswegen sind so viele verrückte Frauen hier. Weil sie schon durch was weiß ich wie viele Höllen gegangen sind.“ 

Während sie das erklärt, sitzt die 52-jährige Ela an einem alten Holztisch in einem Raum, dessen Einrichtung an das Kinderzimmer eines Mädchens erinnert. Nagellack Fläschchen, Deo Dosen, Bürsten und Wimperntuschen liegen vor ihr und auf der Kommode neben der Tür. Der kleine Standspiegel auf dem Tisch und der Ganzkörperspiegel an der Schranktür, werfen sich das Bild einer sportlichen Frau mit langen Beinen hin und her. Ela sitzt im Ankleidezimmer einer Kreuzberger Tagesanlaufstelle für obdach- und wohnungslose Frauen*. Im Unterschlupf können sich Frauen von den Strapazen, die das Leben ohne festen Wohnsitz mit sich bringt, erholen. 

„Frauen werden oft mitgenommen, wenn sie auf der Straße sind“, fährt Ela fort. „Deswegen siehst du sie nicht. Lernen jemanden kennen, du kannst bei mir schlafen. Widerliche Angebote. Die meisten Frauen sind psychologisch sehr angeschlagen. Krisen und haste nicht gesehen, sind inkomplett, weil sie kaputt gegangen sind oder so.“ Auch Ela selbst ist ohne festen Wohnsitz. Den Winter, der gerade zu Ende geht, konnte sie eine Etage über dem Unterschlupf verbringen. Dort hat die Berliner Kältehilfe 20 feste Betten eingerichtet, die die kalten Monate überdauerten. 

Ela bezeichnet sich selbst als Wahlwohnungslose - dabei klingt ihre Geschichte ganz und gar nicht danach. „Ich bin krank geworden, habe den Job verloren, Beziehung gleichzeitig gescheitert und dann auch noch Corona.“ Sie entschied sich, ihre Wohnung in Lichtenberg zu verlassen. Ela hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Ohne Kündigung, ohne die Aussicht auf eine neue Wohnung. Es ist nicht das erste Mal, dass es die 52-jährige auf die Straße treibt. Bevor sie sechs Jahre in ihrer Lichtenberger Wohnung zur Miete lebte, hat Ela acht Jahre wohnungslos verbracht. Sie erzählt von ihrem Leben wie in einem Zeitraffer. Als wäre es ganz gewöhnlich. Dabei ist das, was Ela erzählt, ziemlich außergewöhnlich. 

„Ich war mal acht Jahre draußen. Da habe ich mich umgebracht. Ich bin aber am nächsten Tag wieder wach geworden. Hab mich wieder eingekriegt, war sechs Jahre drinnen, alles war gut und dann wurde es wieder schlechter.“ Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, wo die Wahl in Elas Wahlwohnungslosigkeit liegt. Sie erklärt es so: „Ich wusste, ich habe auf der Straße schon einmal zurück ins Leben gefunden. Also habe ich einen Notstopp gemacht und bin dahin gegangen, wo ich schonmal stark geworden bin.“ In Berlin könne man nicht einsam sein. „Geht gar nicht. Doch, in der Wohnung kannst du vereinsamen, aber sobald du draußen bist, kannst du nicht mehr vereinsamen. Dafür ist es einfach zu voll. In der Wohnung hinter verschlossener Tür hört dich keiner, sieht dich keiner. Du aber das Leben auch nicht. Für mich ist das Leben draußen lebenswerter.“ 

Elas Charakter hält das, was ihre Erscheinung verspricht. Sie ist selbstbewusst, unerschrocken, energiegeladen. Ist der Alltag ohne die eigenen vier Wände aber tatsächlich so zu bewältigen, wie es bis zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs scheint? Zu verkraftbar wirkt das Bild, das Ela von der Wohnungslosigkeit zeichnet. 

Ihr Tag beginnt häufig mit einem Joint. Tagsüber ist sie viel draußen unterwegs, stundenlang rumsitzen fällt ihr schwer. Langeweile ist ein präsenter Zustand, wenn man ein Leben wie Ela führt. „Da ich kiffe, ist das alles ganz erträglich – weil so langweilig kann die Welt dann nicht sein, wenn de einen geraucht hast“, lacht sie und wirft den Kopf in den Nacken. Ihr Lachen geht in einen Hustenanfall über, der sich nach ein paar Sekunden in ein Schmunzeln verwandelt. „Verstehste was ich meine? Da geht der Tag ein bisschen schneller vorbei. Wenn ich viel zu tun habe, muss ich nicht rauchen. Das mache ich aus Langeweile.“ 

Ela putzt in einer Einrichtung und bei einer älteren Dame. Außerdem arbeitet sie gelegentlich als Ordnerin bei Fußballspielen. „Vierte Liga Männer. Da mache ich Eingangskontrolle, stehe aber auch im Innenraum.“ Die letzten Monate haben ihren Knochen zugesetzt, sie tippt auf Arthrose. Wegen der Schmerzen hat Ela zumindest ihren Job am Feld auf Eis gelegt. „Damit kann ich leben im Monat. Hab nichts für meine Rente gemacht, gebe ich zu, aber der Winter geht gerade zu Ende, mal gucken wo ich dann schlafe.“ 

Die Atmosphäre im Unterschlupf entspricht nicht der blauäugigen Vorstellung, die man haben könnte, wenn man an die Zusammenkunft mehrerer Frauen mit einem ähnlichen Schicksal denkt. Gemeinschaft unter den Besucherinnen ist kaum spürbar. Zumindest an diesem Tag. Die Konstellationen sind von Woche zu Woche verschieden, manche Frauen kommen regelmäßig, andere nur einmal kurz. Im Gespräch mit Ela wird schnell klar, dass die Verbindung zu vielen Frauen hier eine bloße Schicksalsgemeinschaft ist. Sie zählt Namen von Frauen auf, von denen sie milde formuliert, nichts hält. Nur weil sie alle wohnungslos sind, seien sie sich nicht automatisch gleich, stellt Ela klar. Die Rollenverteilung erinnert an die in einer Sportmannschaft. Es gibt Frauen, die scheinbar schon länger dabei sind, selbstbewusst ihr Revier markieren. Ela wirkt viel vertrauter mit dem Unterschlupf-Team als die meisten anderen Frauen. Einige von ihnen sitzen teilnahmslos auf der Couch, starren in die Leere. Sprechen kein Wort, wirken angespannt. Wieder andere sprechen vor sich hin, ohne Adressat:in, ohne Zuhörende. 

Nach dem Spülen wickelt die Köchin der Tagesanlaufstelle ein großes, scharfes Messer in ein Küchentuch und verstaut es im hintersten Eck einer langen Schublade. „Nicht, weil in der Hinsicht schon einmal etwas vorgefallen ist, aber sicher ist sicher“, erklärt sie mit gedämpfter Stimme und einem Gesichtsausdruck voller Wärme. Den Frauen, die im Unterschlupf arbeiten, steht erfahrungsbedingte Ernsthaftigkeit ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig haben ihre Züge etwas Weiches. „Ich habe Respekt vor den Frauen, die hier arbeiten. Wir haben ein Leben in Luxus in diesem Haus“, sagt Ela und meint den Unterschlupf. Dazu merkt sie an, man könne diese Einrichtung mit keiner anderen vergleichen. „Keine andere hat auch nur ansatzweise das, was die hier haben. Dieses Herz, Verstand bla bla. Die haben halt keine Sozialarbeiter. Das ist das gute. Die anderen sind gelernte Sozialarbeiter.“ Von denen Ela nicht viel hält. Das Jobcenter tauge nichts. Ela habe selten erlebt, dass jemand aus diesem System schnell wieder rauskommt. 

Von Ehrenamtlichen und Hilfsangeboten hingegen spricht Ela in hohen Tönen. Sie zieht ein in die Jahre gekommenes Smartphone aus der Tasche und scrollt in positiver Fassungslosigkeit durch die Wegweiser App der Kältehilfe, die Anlaufstellen für Wohnungslose abbildet. Nachdem sie beispielhaft Filter wie Schlafplatz, Beratung und Männer und Frauen ausgewählt hat, öffnet Ela eine Liste von Angeboten, die sie mit grobmotorischen Fingerbewegungen und weitaufgerissen Augen nach unten wischt. „Das sind alles Anlaufstellen. Kannst hier auch direkt anrufen“, sie deutet auf einen Button und scrollt in großen Zügen durch die alphabetisch geordnete Liste. „Und wir sind immernoch bei A!“ Wohnungslose seien inzwischen gut vernetzt. Die meisten haben ein Handy. „Es gibt mittlerweile sogar eine ansprechbare Frauenärztin! Das ist in der Szene angekommen? In meinen ersten acht Jahren draußen, hab ich das noch nicht gesehen.“ 

Die Tür platzt auf und eine Frau mit gräulichen Haaren in einem geflochtenen Zopf stellt sich vor Ela und grinst. „Mir fehlen wieder zwei!“ sagt sie in gespieltem Erstaunen. „Mir hamse letzte Woche drei geklaut!“ entgegnet Ela, deren Gesicht sich erhellt, als sie ihre Bekannte entdeckt. Die beiden brechen in lautes Gelächter aus, dann zieht die Frau mit dem Zopf die Tür auf dem Weg nach draußen hinter sich zu. Ela erklärt, dass es um die Unterhosen auf der Wäscheleine im Unterschlupf geht. Geklaut werde hier öfter. Ela imitiert sich selbst: „Ihr Bitches guckt mir ins Gesicht und redet mit mir, während ihr meine Unterhose tragt?“ prustet und hustet sie. 

Wenn Ela nicht im Garten des Unterschlupfs oder der Notübernachtung der Kältehilfe schläft, fährt sie abends von Kreuzberg nach Charlottenburg. Sie nimmt ihre Sachen mit und besiedelt in der Nähe vom Schloss ihre Platte. Es ist meistens der gleiche oder ein ähnlicher Platz, den sie nach ihrem Sicherheitsgefühl ausgewählt hat. „Schloss Charlottenburg ist ne reichere Wohngegend, da sind die Jugendlichen nicht ganz so straight drauf wie in Kreuzberg. Hier werden die Leute vielleicht sogar angezündet, in Charlottenburg nicht.“ Das Schlimmste, was Ela in mehreren Jahren Draußen-Schlafen bisher passiert sei: Nachts haben sich zwei Personen neben ihre Bank gestellt und ein Schlaflied gesungen. „Den anderen Frauen sind wirklich schon ganz andere Dinge passiert.“ Wäre dieses Gespräch mit einer anderen Frau ganz unterschiedlich verlaufen? Sicherlich ja. Die nach außen schroff wirkende Ela zumindest scheint von innen wertschätzend. „Wenn‘s um’s Meckern geht, dann bin ich die falsche. Es wird in dieser Stadt verdammt viel getan.“ 

Wenn man sie nach Ansätzen fragt, die das Leben von Wohnungslosen erleichtern würden, hat sie dennoch schnell eine Antwort parat. „Es muss wesentlich am sozialen Wohnbau geschraubt werden. Es sollte verboten sein, in dieser Stadt noch so teuer zu bauen. Luxusbau darf einfach gar nicht erst genehmigt werden. Es muss wesentlich mehr gemacht werden, damit Leute überhaupt in Arbeit kommen dürfen. Viele dürfen ja gar nicht. Migranten zum Beispiel. Wenn se solchen Leuten das Arbeiten verbieten und die trotzdem ihre Familien und Bedürfnisse haben – klar werden sie kriminell. Was sollen sie machen? Es sollte überhaupt keine Frage sein, dass Wohnungslose keine Tickets für öffentliche Verkehrsmittel haben. Da sollte es eine Anlaufstelle geben, wo man sich einfach als wohnungslos registrieren lassen kann.“ Sie kramt ihren Personalausweis hervor, auf dessen Rückseite keine vollständige Adresse steht. Nur eine Postleitzahl und ein Straßenname. „In der Kochstraße ist ein Bürgeramt für Wohnungslose. Wenn ich beim Schwarzfahren erwischt werde, zeige ich immer meinen Ausweis und sage ich bin wohnungslos. Da steht nur die Postadresse der Kochstraße, das heißt ich bin ofw. Ohne festen Wohnsitz. Normalerweise lassen sie mich dann gehen. Kulanzsache sagen se dann immer. Aber einer hat mich auch mal aufgeschrieben. Das waren halt Arschlöcher, aber es gibt auch welche, die sind keine.“ 

Lange Zeit später nach diesem Vorfall gerät Ela per Zufall in eine Personenkontrolle. Fünf Monate muss sie anschließend im Gefängnis wegen Schwarzfahren absitzen. Sie hätte die Strafe abbezahlen können. „Aber wie willst du was abbzahlen? 15 Euro Tagessatz. Aber wovon? Du müsstest es abarbeiten, aber ich kann es nicht abarbeiten, weil ich muss in meine Einrichtung, ich muss mir meine Lebensmittel besorgen. Also bleibste solange draußen bis se dich holen und dann sitzte das ab. 15 Euro am Tach.“ Jetzt ist Ela vorbestraft. „Für Schwarzfahren absitzen – ich bitte dich man!“ Sie ärgert sich darüber, dass es viele wirksame Angebote für Wohnungslose gibt, aber keine Möglichkeit von A nach B zu kommen. Oder zu einer Arbeitsstelle. 

Neben sozialem Wohnungsbau und kostenlosen Verkehrsmitteln fordert Ela Stauraum für Wohnungslose. Bei all den angestrengten und akademischen Debatten um Obdachlosigkeit, klingt diese Forderung fast lächerlich. Aber ein eigener Schrank würde den Tag einer wohnungslosen Person spürbar erleichtern. „Man muss Sachen lagern können. Es gibt keinerlei Plätze, wo du beispielsweise ein Zelt hinstellen darfst.“ Menschen ohne festen Wohnsitz schleppen ihr Hab und Gut von Ort zu Ort. Das ist nicht nur anstrengend und unpraktisch, sondern auch risikoreich. Ela erinnert sich einen Abend, an dem sie an ihrem Schlafplatz plötzlich vor dem Nichts steht. „Du kommst abends auf deine Platte und hast nichts mehr. Es wird einfach weggenommen. Ich hatte ein Zelt, da war alles drin. Meine gesamte Habe. Die haben nichts vorher angekündigt, gar nichts. Die hätten mir einen Zettel dranhängen können. Keine Vorwarnung, du hast keinerlei Rechte.“ 

Das Gespräch mit Ela ist ein Appell. Jeder ihrer Schilderungen liegt dieser Gedanke zu Grunde: „Wir haben alle unterschiedliche Bedürfnisse. Man kann Obdach- und Wohnungslose einfach nicht über einen Kamm scheren. Aber was wir alle brauchen, ist ein bisschen Platz und Akzeptanz. Dass wir auch mal sitzenbleiben dürfen.“ Sie fragt: „Darf man nur alternativ wohnen, wenn man das Geld dazu hat?“

Die Protagonistin möchte anonym bleiben, ihr Name wurde geändert.
In wenigen Wochen muss der Unterschlupf seine Räumlichkeiten verlassen. Eine Petition fordert den Erhalt der Einrichtung für wohnungslose Frauen*. Stand 16.04.2024.

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