Welche Männlichkeit brauchen wir für eine schöne Zukunft?
©Toni Quell. Wie kann feministische Männlichkeit aussehen? Fikri Anıl Altıntaş hat die ein oder andere Idee.
Dauerregen, Zahnarzttermin und BVG-Streik – könnte ein Montagmorgen im Berliner Januar noch beschissener starten? Hätte uns Fikri Anıl Altıntaş kurzfristig abgesagt, hätten wir ihm das nicht einmal übel nehmen können. Unser Gast aber erscheint von all dem unbeirrt in der Staatsbibliothek Unter den Linden und stellt sich mit stoischer Freundlichkeit canny’s unverschämt großen Fragen.
canny magazine: Anıl, du bist #HeforShe Botschafter für UN-Women, auf Instagram machst du auf Femizide aufmerksam und Louis Klamroth lädt dich zu hart aber fair ein, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. Mit Verlaub: Ein außergewöhnliches Jobportfolio. Wie kam es dazu?
Fikri Anıl Altıntaş: Als Junge habe ich viele Dinge gemacht, die die meisten Jungs in meinem Alter auch gemacht haben. Dabei habe ich oft Ambivalenzen gespürt, zum Beispiel was Hobbys angeht: Natürlich habe ich total gerne Fußball und Basketball gespielt, aber ich habe auch voll gerne Musik gemacht und war sehr kreativ. Diese Ambivalenz habe ich in meine Zwanziger mitgetragen. Da gab es häufig Situationen, in denen ich von Freund:innen auf Fehlverhalten aufmerksam gemacht wurde. Es gab viele Gespräche, viele Konfrontationen, auch mit meiner Partnerin. All diese Personen haben sehr viel Arbeit in mich investiert.
Irgendwann kommt man dann an einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Oder besser gesagt: Ich wollte kein Zurück mehr. Damit meine ich vor allem das Verständnis davon, dass Männer in Gewaltverhältnisse verstrickt sind, dass es die Verantwortung von Männern ist, diese Gewaltverhältnisse aufzulösen – und gleichzeitig sich selbst aus dem Druck, der Männlichkeit bedeutet, herauszulösen.
Ich erinnere mich an ein schönes Zitat von Nils Pickert, der sehr wichtige feministische Arbeit leistet. Wir waren auf einer Veranstaltung und er wurde gefragt, was er tun würde, wenn er Bundeskanzler wäre. Er sagte: Ich will gar kein Bundeskanzler werden, ich will einfach nur versuchen, die Care-Arbeit zu übernehmen, die für mich anfällt. Und das finde ich eine gute Haltung.
©Toni Quell. Wenn Fikri Anıl Altıntaş nicht gerade vom Zahnarzt kommt, lächelt er auf Bildern für gewöhnlich gern.
canny magazine: 2023 wurden in Deutschland 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten Tötungsdelikten, 360 der Angriffe endeten in einem Femizid. Jeder dritte Mann hierzulande hat ein geschlossen antifeministisches Weltbild. In Frankreich wurde gerade noch der Fall Pélicot verhandelt, da planen und dokumentieren 70.000 Nutzer in einer Telegram-Gruppe, wie sie Frauen vergewaltigen können. Was hat Männlichkeit damit zu tun?
Fikri Anıl Altıntaş: Männlichkeit, so wie wir sie leben, führt zu Abwertungsmechanismen, also einer Erhöhung des Männlichen und einer Abwertung des Weiblichen. Die binäre Logik dahinter führt dazu, dass wir an so Dingen wie Männlichkeit überhaupt festhalten. Auch die falsche Vorstellung, dass Männer ein Anrecht auf zum Beispiel Sex und Gewalt haben, verstärkt Gewaltverhältnisse. Damit einher geht der Glaube an gewisse Geschlechterrollen, in denen gesellschaftliche Plätze verhandelt werden. Das führt ganz grundsätzlich zu Unterdrückungsmechanismen. Christina Clemm nennt das die emotionale Gewohnheit der Verachtung.
Insofern spielt Männlichkeit als Vehikel für Gewaltverhältnisse eine entscheidende Rolle. Wir sollten jedoch nicht so tun, als gäbe es die eine Männlichkeit. Ich glaube, wir sind an dem Punkt, an dem Männlichkeit sowohl Problem als auch ein erster Lösungsansatz sein kann. Ein Nachdenken über Sozialisation ermöglicht Männern überhaupt erst zu reflektieren, wie sie aufgewachsen sind. War diese Sozialisation womöglich schädlich für sie selbst und andere?
canny magazine: Während die USA einen trans-, queer- und migra-feindlichen strongman zum Präsidenten küren, unterstützt der reichste Mann der Welt Deutsche Rechtsextreme im Wahlkampf. Auf Social Media schauen sich 13-jährige Jungs derweilen an, wie sie Frauen dazu bekommen, mit ihnen Sex zu haben, von einem anderen Device postet ein bekannter Mann: Your Body, my choice, forever. Antifeminismus wird zunehmend komplexer. Wie können wir ihn verstehen?
Fikri Anıl Altıntaş: Viele Expert:innen arbeiten zu diesem Thema, Judith Rahner und Veronika Kracher zum Beispiel. Es gibt eine digitale Radikalisierung und es gibt eine politische Radikalisierung. Was die beiden gemeinsam haben, ist traditionelle Männlichkeit und ein Angriff auf emanzipatorische Bewegungen. Laut einer kürzlich erschienenen Studie des Bundesforum Männer, greifen Männer zwischen 18 und 29 Jahren gerade in Zeiten der Krisenmodi und Unsicherheit auf traditionelle Männlichkeit zurück. Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft ist es, genau diese Unsicherheiten wahrzunehmen. Wenn wir keine Gegenangebote machen, dann verlieren wir sie.
Antifeminismus – und das ist mir wichtig – ist nicht nur rechts verortet. Antifeminismus zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Wir wissen, dass es in Verbindung mit religiösen Akteuren Radikalisierungspotenzial gibt. Wir wissen auch, dass sich beispielsweise in der FDP Männer- und Väterrechtler tummeln. Das heißt, wir beobachten antifeministische Gegenbewegungen nicht nur in der Zivilgesellschaft, nicht nur etwa bei jungen Männern, sondern auch in Politik und Institutionen.
canny magazine: In einem Beitrag für die taz schreibst du Männlichkeiten würden gegeneinander ausgespielt, wobei weiße Männlichkeit über andere gestellt werde. Wie hängt Antifeminismus insbesondere mit Rassismus zusammen?
Fikri Anıl Altıntaş: Aus der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 geht hervor, wie Antifeminismus als Einfallstor für autoritäre Haltungen dient. Diejenigen, die sich antifeministisch radikalisieren, kommen relativ schnell an einen Punkt, der nicht weit von Antisemitismus, antimuslimischem Rassismus und verschwörungsideologischem Denken liegt.
Unterschiedliche Studien sowie die Arbeit von Menschen wie Christina Clemm und Asha Hedayati zeigen, wie sich Gewalt durch alle gesellschaftlichen Milieus zieht. Gewalt gegen Frauen findet auch in akademischen Haushalten statt. Das passt aber vielen nicht in die politische Haltung. Nicht-weiße Männlichkeit wird abgewertet, um weiße Männlichkeit als progressiv zu inszenieren. Studien zeigen, dass Gewalttaten nicht-weißer Männern deutlich häufiger in den Medien besprochen werden. Dass Gewaltaffinität primär mit nicht-weißer Männlichkeit in Verbindung gebracht wird, führt dazu, dass sich ein Großteil der Gesellschaft aus der Verantwortung zieht, genauso wie die Politik. Asyl- und migrationsfeindliche Politik wirbt für den Schutz der weißen Frau. Dabei geht es nicht nur um die weiße Frau, sondern in letzter Konsequenz um ein patriarchales Gefüge, das geschützt werden soll. Vollkommen vergessen wird dabei, dass auch sehr viele migrantisierte oder migrantisch markierte Frauen von Gewalt betroffen sind.
canny magazine: Welche Männlichkeit brauchen wir für eine bessere Zukunft?
Fikri Anıl Altıntaş: Aus einer theoretischen Perspektive würden viele argumentieren: Das Ziel ist, Männlichkeit obsolet zu machen, also nicht nur eine pro-feministische Haltung einzunehmen, sondern die gesamte gesellschaftliche Struktur umzukrempeln, die aktuelle Männlichkeiten überhaupt hat entstehen lassen. Da bin ich voll dabei. Gleichzeitig merke ich an der Arbeit mit Jungs und Männern, wie weit Anspruch und Realität auseinander liegen. Arbeit an Männlichkeiten, das ist ein lebenslanger Prozess und das ist dementsprechend wenig sexy.
©Toni Quell. “Das ist mein Ziel: Irgendwann würde ich dieser Männlichkeit gerne Tschüss sagen.”
Zuerst braucht es eine Männlichkeit, die an sich arbeitet. Dann braucht es finanzielle Ressourcen, um diese Arbeit möglich zu machen. Ich plädiere immer dafür, dass wir Lernräume schaffen, auch für Männer. Das klingt wie Kindergarten – to a certain extent it is.
Wir brauchen Arbeit mit Männern. Wir können es uns nicht leisten, Männer nicht mitzunehmen. Deshalb sehe ich vielleicht meine Aufgabe, zusammen mit vielen anderen pro-feministischen Mitstreitenden, diese Care-Arbeit aufzunehmen, die bereits über Jahrhunderte hinweg geleistet wird. Wir müssen unsere Leute in die Pflicht nehmen. Dabei bleibe ich mutig, weil ich in feministischen Kontexten immer wieder auf Menschen treffe, die mutig sind, die nicht aufgeben.
canny magazine: Kannst du uns sprachlich dein schönstes Männlichkeitsbild malen?
Fikri Anıl Altıntaş: Ich mag Männlichkeit, die sich abarbeitet, die sich abträgt. Ich würde mir wünschen, dass sich Männer lange im Spiegel anschauen, und nicht nur nach Selbstoptimierung, sondern vielleicht auch nach innerer und seelischer Heilung suchen. Damit die Reflexion nicht ausschließlich in einem Bild hängen bleibt, sondern eine Abarbeitung zur Folge hat. Ich mag Männlichkeit, die sich an Fürsorge und an Gegenseitigkeit orientiert, vor allem weniger an Konkurrenz. Letzteres bemerke ich an mir selbst immer wieder. Ich glaube, wir sollten uns öfter im Spiegel anschauen. Nicht, um zu sehen, wie geil wir sind, sondern wie stark wir an uns arbeiten müssen. Ich will mein Leben nicht mehr als Orientierung an einer Männlichkeit beschreiben, sondern als Orientierung an mir selbst. Das ist mein Ziel: Irgendwann würde ich dieser Männlichkeit gerne Tschüss sagen.
canny magazine: Was würde der 12-jährige Anıl heute über dich denken?
Fikri Anıl Altıntaş: Ich glaube, mein zwölfjähriges Ich würde vieles an mir uncool finden. Weil er, wie die meisten Männer, mit einer Männlichkeit aufgewachsen ist, die Weibliches, Weiches und Zärtliches ablehnt. Gleichzeitig wäre er vermutlich stolz, weil ich immer schon sehr politisch war. Er wäre sicher sehr stolz, wenn er wüsste, was ich in den letzten Jahren geschafft habe. Ich würde ihn gern fest in den Arm nehmen und ihn darin bestärken, die Dinge zu tun, die er sowieso tut: kreativ sein, tanzen, Rollenmuster aufbrechen. Ja, darin würde ich ihn bestärken.