Toxische Weiblichkeit
Sophia Fritz füllt den Begriff toxische Weiblichkeit in ihrem gleichnamigen Buch mit wertvoller Bedeutung, bevor es die Falschen tun. Über das gute Mädchen in jeder von uns und warum es leider sterben muss.
Bei wem der Begriff toxische Weiblichkeit die unausgesprochene Hoffnung weckt, dass es jetzt endlich mal den Frauen an den Kragen geht, der oder die wird von diesem Text enttäuscht werden. So, und jetzt wo wir unter uns sind: Sophia Fritz gelingt ein brillantes Sachbuch, das Emanzipation aus einer neuen, ergänzenden Perspektive beleuchtet. Wie trägt weibliche Prägung dazu bei, dass patriarchale Strukturen erhalten bleiben? Bevor engagierte Feminst:innen abwinken, weil sie keinen Bock auf weitere Vorschriften, Beschämung und Optimierungsvorschläge für Frauen haben – dieses Buch ist nicht das, wonach es aussieht!
Im Gegensatz zu toxischer Männlichkeit endet toxische Weiblichkeit nicht systematisch in Suiziden, Suchterkrankungen, körperlicher und sexueller Gewalt, Femiziden und Kriegen. Vor dieser Prämisse lässt sich Sophia Fritz‘ Buch verstehen. Trotzdem lohnt sich ein Blick auf das, was die Autorin weibliche Prägung nennt, um echter Emanzipation näher zu kommen. Die Verhaltensweisen oder auch Prägungen, um die es in ihrem Buch geht, „sind (…) weder weiblich noch männlich gelesenen Personen per se zu eigen. Wir alle haben sie übernommen und kultiviert, um in einer patriarchalen Gesellschaft vermeintlich bestmöglich zu überleben.“ Dieser Text und vor allem das hier besprochene Buch enthält also für alle Menschen wertvolle Überlegungen, nicht nur für Frauen.
Das Buch widmet sich fünf stereotyp-weiblichen Rollenbildern. Mit dem guten Mädchen, der Powerfrau, der Mutti, dem Opfer und der Bitch bildet die Autorin verschiedene Überlebensstrategien von Frauen im Patriarchat ab, die auf unterschiedliche Weise unsere Beziehungen (meistens negativ) beeinflussen. Dieser Text widmet sich dem guten Mädchen, weil es diejenige Prägung ist, die mir am häufigsten begegnet und gleichzeitig jene, die junge Frauen so sehr davon abhält, ein zwangloses und entspanntes Leben zu führen.
Historisch bedingt ist es für Frauen wichtig, behalten zu werden. Gemocht und geliebt werden, wird zu einer wichtigen Währung, wenn man kein Erbe erhält, kein Geld verdient, nicht unverheiratet leben kann, kurz, wenn man sich eine Daseinsberechtigung in dieser Gesellschaft durch einen positiven Beitrag erst verdienen muss und sie nicht von vornherein innehat. Unterliegt man ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen, so kann man sich Unbeliebtheit wortwörtlich nicht leisten. Wie macht man sich trotz allem unentbehrlich? Indem man sich kümmert, tröstet, zuhört, hilft, schweigt, lächelt, unterstützt, anfeuert. Sophia Fritz nennt es „eine Form der kontrollierbaren Nützlichkeit“, die eine „konkrete Daseinsberechtigung“ schafft. Vielleicht fühlt sich das gute Mädchen in euch jetzt ertappt. Denn es geht um sie.
Das gute Mädchen verbringt drei Stunden auf einem Hinge Date und bezahlt die Drinks, um später via Text freundlich zu sagen, dass es nicht gepasst hat. Es hört aufmerksam zu und sammelt eifrig jeden Ballast auf, der geflogen kommt. Es räumt seinem Partner hinterher wie einem Kleinkind. Es entlädt seine Wut kaum hör- und spürbar in Asanas auf der Yogamatte und nicht im Internet oder in der U-Bahn. Es hat Bauchweh, anstatt zu schreien. Es spielt Scharade, aber niemand weiß vom Spieleabend. Das gute Mädchen tröstet Männer nach schlechtem Sex und hat Sex, um keine Umstände zu machen. Es schauspielt bühnenreif, um als Dank keinen Oscar, sondern das Gefühl von Leere und Selbstentfremdung überreicht zu bekommen.
Vor allem Frauen selbst leiden unter diesen Formen der Aufopferung. Toxisch ist das Verhalten aber auch deswegen, weil es oft hintergründig Ziele verfolgt, von denen das Gegenüber nichts weiß. Nach Sophia Fritz handele es sich dabei um eine Notlösung, um in einem patriarchalen Gesellschaftssystem bestehen zu können, aber „toxische Weiblichkeit ist (…) die Performance einer Unterordnung, hinter der sich doch der Versuch, Macht und Kontrolle zu erringen, verbirgt.“ Das kann die Mutter sein, die sich als sozialer Kitt in der Familie unumgänglich macht, die junge Frau, die Lässigkeit und Unkompliziertheit spielt, um einen Mann an sich zu binden, der nicht gebunden sein möchte oder die ältere Dame, die finanziell abhängig von ihrem Ehemann ist und ihm das mit subtilen Sticheleien heimzahlt.
All das klingt traurig, aber versteht mich nicht falsch, das gute Mädchen kommt super zurecht! Es erfüllt die für sie vorgesehene Rolle und nimmt damit den easy way out. Sophia Fritz erklärt, was dabei das tatsächliche Problem ist. „Das gute Mädchen verfügt über viel intuitives Wissen, es bewegt sich leichtfüßig und selbstverständlich durch soziale Räume, aber gewinnen wird es im patriarchalen System nicht. Denn es geht gar nicht erst an den Start, sondern feuert nur von der Außenlinie an.“
Wieso feuern Frauen lieber von der Außenlinie an, anstatt mitzuspielen? Sie sollen sich ein Trikot schnappen und sich selbst einwechseln! Aber so leicht ist das nicht. „Ein Feminismus, der von Frauen erwartet, bestimmt und selbstbewusst die eigenen Ziele zu erreichen, ist nicht besonders frauenfreundlich, da er nicht berücksichtigt, dass Frauen genau für dieses durchsetzungsstarke, auffällige Verhalten kritisiert werden“, schreibt die Autorin. So zu sein, wie es von uns erwartet wird, bedeutet Sicherheit. Entgegen dem gesellschaftlichen Bild von Weiblichkeit zu handeln, birgt Gefahren, die sich nicht jede Frau leisten kann. Sich im bekannten Hafen der eigenen Prägung aufzuhalten, macht keine Probleme. Gleichzeitig ist es das jedoch auch jener Hafen, in dem es uns nicht möglich ist, so laut oder leise, so direkt oder heimlich, so empathisch oder egoistisch zu sein, wie wir wollen. In dem es sich manchmal nach Ertrinken anfühlt.
Auch die Beziehungen zwischen Frauen leiden unter dem guten Mädchen. Worte wie „Darauf habe ich gar keine Lust“, „Ich glaube, du liegst falsch“ oder „Das hat mich krass verletzt“ muten wir unserem Gegenüber ungern zu. Daher kommt das mulmige Gefühl nach einem Treffen mit Freundinnen bei dem man nicht man selbst war, das schlechte Gewissen nach längerer Kontaktpause, die erfunden Ausreden. Das gute Mädchen traut den eigenen Freundinnen nicht zu, dass sie auch ihre „schlechten“ Seiten mögen könnten. Daher hat es einen Weg gefunden, Beziehungen zu pflegen, ohne dabei das hohe Risiko der Ablehnung einzugehen. Sophia Fritz nennt es „Intimität professionalisieren“ und meint damit Beziehungen, die auf fein säuberlich kuratierten Inhalten aufbauen. Sie schreibt: „Wenn man Intimität zu performen weiß, hinterlassen selbst Bekenntnisse, die zutiefst persönlich wirken, ein Gefühl von Einsamkeit – und das, obwohl sich dir dein Gegenüber ganz nah fühlt.“ Indem wir uns einander nicht ehrlich zumuten, halten wir uns von tatsächlicher Verbindung ab. Womit Sophia Fritz das Geheimnis zu wahrer Schwesternschaft lüftet. Erst, wenn wir authentisch sind und uns keine Zuneigung mehr vorspielen, können wir uns wirklich begegnen. Und vor allem gelassen dabei sein.
Die Autorin rekapituliert: „Ich bin unglaublich gut darin, mich selbst alleinzulassen.“ Egal ob in romantischen Beziehungen oder Freundschaften – das gute Mädchen in uns hält davon ab, uns wirklich zu begegnen. Weil wir uns verstellen und verbiegen, das Gegenüber spiegeln, es anderen recht machen und dabei unsere eignen Bedürfnisse ignorieren. Alles, um nicht abgelehnt zu werden, um dabei sein zu können. Um geliebt zu werden, denn liebenswert sein, bedeutet Frausein.
In Sophia Fritz‘ Buch geht es nicht darum, Frauen zu ermutigen, männliche Prägung zu performen, per se egoistischer und abgebrühter zu sein. Es geht nicht darum, sich weiter selbst zu optimieren und noch mehr zu kämpfen, auszuhalten und zu beweisen – so wie das die Powerfrau gerne tut. Es geht darum, ehrlich man selbst sein zu können, ohne Sanktionen zu befürchten und dadurch bessere Beziehungen zu anderen und sich selbst zu pflegen. Damit ergänzt Sophia Fritz das feministische Puzzle um ein wichtiges Teil. „Emanzipation ist (…) nicht nur die Befreiung von der institutionellen Dominanz der Männer, sondern auch die Befreiung von Weiblichkeit als patriarchaler Wunschvorstellung.“ Die Autorin zitiert Virginia Woolf, die ebenso die Selbstaufgabe guter Mädchen thematisiert und nach der Aufzählung ähnlicher Symptome zu folgendem Entschluss kommt: „Ich tat alles, um sie zu töten.“
Als meine Mutter das Buch auf meinem Schoß liegen sieht, liest sie sich den Titel selbst vor. „Toxische Weiblichkeit“, denkt nach. „Bin das ich?“ Ich entgegne ihr: „Ja, und ich auch.“