Wessen Arbeit ist es wert, finanziert zu werden?

Kristina Lunz fordert zur Stärkung der feministischen Zivilgesellschaft nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch mehr Offenheit in den eigenen Reihen. Wie helfen feministische Utopien dabei, Ungerechtigkeit zu überwinden?

© Sapna Richter. Zusammen mit CFFP kämpft Kristina Lunz für eine Feministische Außenpolitik, mehr Gerechtigkeit und weniger Gewalt.

Kristina Lunz ist eine preisgekrönte Unternehmerin, Aktivistin, Bestseller-Autorin und Beraterin, die mit ihrer feministischen Arbeit weltweit politisch und gesellschaftlich Einfluss nimmt. Als Mitgründerin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) kämpft sie für eine gerechtere und gewaltfreie Welt durch Feministische Außenpolitik. Unsere Gästin hat viele Namen: Woman of the Year 2024, Impact Entrepreneur 2024, Woman for Change 2024, Vordenkerin 2020 – Das canny magazine darf sie Kristina nennen. 

canny magazine: Kristina, in deinem Buch Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch beschreibst du die feministische Zivilgesellschaft als unverzichtbare transformative Kraft, die jedoch als soziale Bewegung unterfinanziert ist. Um welche Bewegung geht es? 

Kristina Lunz: Die feministische Bewegung ist eine vielteilige, heterogene Bewegung, bestehend aus unterschiedlichen Gruppierungen weltweit, die mit ihrer Arbeit versuchen, Gesellschaften gerechter zu machen. Gerechter, indem Frauen- und Menschenrechte im Allgemeinen gestärkt werden. Der Fokus auf Frauenrechte bleibt bestehen, weil Frauen die größte marginalisierte Gruppe bilden. Seit Kimberlé Crenshaw den Begriff der Intersektionalität prägte, ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass sich Unterdrückungsmechanismen überschneiden und neben Frauen viele weitere Gruppen betreffen. Merkmale wie Religion, ethnische Zugehörigkeit und einige mehr spielen dabei eine Rolle. Die feministische Bewegung ist daher sehr divers, aber mit dem einheitlichen Ziel, die Gesellschaft gerechter zu gestalten. 

canny magazine: Andere Bewegungen, wie zum Beispiel die Anti-Gender-Bewegung, finden oft schneller eine gemeinsame Stoßrichtung. Für den Feminismus wünschst du dir mehr »Ja, und« anstelle von »Ja, aber«. Was bedeutet das in der Praxis? 

Kristina Lunz: Für mich bedeutet das, Offenheit zu zeigen. Wir sollten immer offen für Menschen bleiben, die etwas bewegen wollen. Ich schaue mir mit einem offenen Auge, einem offenen Herzen und auch mit meinem Verstand an, was andere vorhaben, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dafür nutze ich »Ja, und« sehr gern. Es ist konstruktiv. »Ja, und« kann bedeuten: Ja, ich finde super, was du vorhast, denn mit dem Ziel stimme ich überein. Und gleichzeitig habe ich noch Ideen, was man verbessern kann. Das ist eine inklusive, konstruktive Vorgehensweise. Es ist sinnvoller, als zu sagen: Gute Idee, aber du machst das falsch. Mit Fokus auf dem, was vielleicht noch nicht ausreichend gut oder durchdacht ist. Indem wir als feministische Zivilgesellschaft ein Mindset von »Ja, und« kultivieren, werden wir gemeinsam noch viel stärker werden. 

canny magazine: Wo stehen wir unseren Zielen möglicherweise selbst im Weg? 

Kristina Lunz: Seit zehn Jahren engagiere ich mich feministisch in der Öffentlichkeit und über die Zeit habe ich immer wieder erlebt, dass mir und auch anderen dieses ausschließende »Ja, aber« entgegengebracht wird. So stößt man andere schnell vor den Kopf. Ich bekomme häufig Nachrichten, in denen mir Menschen mitteilen, sie würden sich gern engagieren, sie würden gern feministisch aktiv werden, aber sie trauen sich nicht. Sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen, Angst noch nicht genug gelesen und durchdacht zu haben. Wenn wir aber eine Kultur pflegen, die inklusiver ist, dann würden wir diese Angst nehmen. Viel mehr Menschen würden sich trauen, mitzumachen. 

canny magazine: Aktivismus ist meistens unbezahlt und im schlimmsten Fall sogar gefährlich. Besonders marginalisierte Menschen können sich Aktivismus schlicht weg nicht leisten. Wie kann Aktivismus besser und die feministische Zivilgesellschaft stärker werden? 

Kristina Lunz: Das ist eine der Gretchenfragen, an der wir auch mit CFFP arbeiten. Hier ein Beispiel: Vor sechs Jahren habe ich CFFP in Berlin mitgegründet und von Anfang an war es mein Ziel, das Unternehmen nicht auf unbezahlter Arbeit aufzubauen. Für mich war klar, ich werde keine Organisation leiten, die wieder Strukturen von unpaid Care-Work reproduziert. Am Ende ist diese unbezahlte, aktivistische Arbeit eben eine Verlängerung der unbezahlten Care-Arbeit in unserer Gesellschaft. Letztendlich sind es wieder Frauen und anders marginalisierte Gruppen, die unbezahlte Arbeit machen, während diejenigen, die mit dem Status Quo zufrieden sind, weiterhin gut bezahlte Jobs erledigen. Das wollte ich durchbrechen und das haben wir ganz genauso auch geschafft. CFFP zahlt gute Gehälter. Das Ziel ist, feministisches Wirken in ein fair bezahltes Setting zu bekommen. 

canny magazine: Wer sollte sich von diesem Ziel im besten Fall angesprochen fühlen? 

Kristina Lunz: Regierungen, internationale Organisationen, die Philanthropie* im Allgemeinen, die Vorstände von Stiftungen – In Deutschland allein gibt es tausende Stiftungen. Wir wissen, dass beispielsweise die Anti-Gender-Bewegung sehr gut finanziert ist. Laut einem Bericht aus 2021 des European Parliamentary Forum for Sexual & Reproductive Rights wurden von 2009 bis 2018 insgesamt 707,2 Millionen US Dollar aus den USA, Russland und Europa in Angriffe auf LGBTQ*- und Frauenrechte in der EU investiert. Die Summen hingegen, die international für Frauenrechte aufgewendet werden, sind sehr gering. Von diesen Geldern wiederrum wird nur ein Prozent für Frauenrechtsarbeit weltweit ausgegeben. Also nur ein Prozent dieses Geldes geht an Grassroots-Frauenrechtsorganisationen wie CFFP. 

Wir brauchen ein Umdenken, auch in der philanthropischen Landschaft, bei der Frage, wessen Arbeit es wert ist, finanziert zu werden. Es muss um die großen Gelder gehen. Die großen Gelder müssen anders verteilt werden. Bis jetzt steht feministische Arbeit und die Arbeit von Frauen da weiterhin hinten an. 

canny magazine: Aktivistische Forderungen werden oft als realitätsfern und uninformiert abgetan, insbesondere wenn sie von queeren oder weiblichen Stimmen oder aus dem sogenannten Globalen Süden kommen. In deinem Buch beschreibst du, wie politische Forderungen als „naiv, dumm, typisch Frau und unangenehm links“ diskreditiert werden. Ist es gefährlich, feministische Forderungen als utopisch abzustempeln? 

Kristina Lunz: Ich besetze Utopie als etwas sehr Positives. Utopie ist die Vision für eine Zukunft, die gerechter und lebenswerter für uns alle ist. Visionen zu kreieren, das ist harte Arbeit. Es ist viel einfacher, bloß zu reagieren, anstatt etwas Neues zu artikulieren und darauf hinzuarbeiten. Peacebuilder:innen beispielsweise versuchen mit ihrer Arbeit, eine gemeinsame Vision von der Zukunft, eine Utopie, aufzuzeigen. Dann wird überlegt, was im Jetzt getan werden muss, um diese Utopie zu erreichen. Das ist ein grundlegend anderer Ansatz als das, was im Politischen oft gemacht wird. Meistens wird aus Ereignissen der Vergangenheit abgeleitet, wie wir uns heute verhalten. Feministische Utopien sind für mich der vielversprechendste Versuch, eine Welt zu gestalten, die nicht mehr durchzogen von Ungerechtigkeit und Gewalt ist. 

canny magazine: Dem gegenüber setzt du häufig Realpolitik**. Müssen wir realpolitisches Denken verlernen? 

Kristina Lunz: Wir müssen uns jedenfalls sehr stark hinterfragen. Mein Vorschlag ist, in unterschiedlichen Zeitabschnitten zu denken. Politik funktioniert short, medium und longterm. Wenn jemand sagt, wir müssen realpolitisch denken, meint die Person eigentlich, wir müssen überlegen, was kurzfristig zu tun ist. Aber nur, weil man in der kurzen Frist argumentiert, sollte das nicht die mittel bis lange Frist ausschließen.

Ich mache es an einem Beispiel fest: Wir wollen Frieden, aber Putin bombardiert die Ukraine. Anstatt Realpolitik zu fordern, wäre es klüger, zu sagen: Ja, Putin bombardiert, deshalb ist es in der kurzen Frist richtig, Waffen an die Ukraine zu liefern, weil die Menschen diese vor Ort brauchen. Gleichzeitig müssen wir jetzt schon mittel- und langfristig überlegen, wie wir dennoch dem Ziel einer Welt näherzukommen, in der es weniger Konflikte und Kriege gibt. Ein Sondervermögen für die Bundeswehr nehme ich als kurzfristige und reaktive Entscheidung wahr. Gleichzeitig bräuchte es ein Sondervermögen für den Ausbau von Völkerrecht, Zivilgesellschaft, Demilitarisierung und Diplomatie. So handeln wir nicht nur kurzfristig, sondern auch schon mittel- und langfristig.

canny magazine: Bei der von CFFP organisierten Veranstaltung Für Frauen gegen Rechte forderte Enissa Amani dazu auf, dass wir mutiger werden müssen. Wir wüssten genug, um endlich laut zu werden. Welchen Ratschlag hast du für Menschen, die etwas verändern wollen, aber nicht wissen, wie? 

Kristina Lunz: Im Oktober kommt mein neues Buch Empathie und Widerstand, in dem ich versuche, Ideen zu genau dieser Frage zu formulieren. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Möglichkeiten, mutig zu sein. Die Möglichkeiten, sich Mut leisten zu können und auch Sicherheitsbedürfnisse sind verschieden. Eine kluge Sicherheitsabwägung ist wichtig.

Mutiger sein können wir, indem wir artikulieren und teilen, was uns stört – indem wir auf Social Media darüber sprechen, indem wir offene Briefe schreiben, indem wir mobilisieren, Organisationen und Individuen zusammenbringen und natürlich, indem wir Geld geben. Menschen, die in finanziell besseren Situationen sind, können mit Geld feministische Bewegungen unterstützen. Immer wieder auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen, das ist etwas, was wir alle tun können. Was wir auch alle tun können, ist konstruktiv kritisieren. Enissa hat bei einer Veranstaltung dieses Jahres ihren Vater zitiert, der sagte: Wenn wir ein brennendes Haus sehen, können wir alle rufen, dass es brennt, ohne direkt zu wissen, wie man das Feuer löscht. 

* Philanthropie bezieht sich hier auf Spenden und Aktivitäten von Einzelpersonen oder Organisationen, die darauf abzielen, das Gemeinwohl zu fördern. 

** Realpolitik meint eine pragmatische, oft kurzfristige Politik, die sich an den aktuellen Gegebenheiten, Möglichkeiten und Machtverhältnissen orientiert, anstatt werteorientiert von bestimmten Überzeugungen geleitet zu werden. 

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