Von wegen nur »Kuschelhormon«: So wirkt Oxytocin

Als sogenanntes Kuschelhormon beeinflusst Oxytocin unsere romantischen Bindungen. Was viele nicht wissen: Das Hormon macht deutlich mehr.

© Pexels, Symbolbild

Lina ist todunglücklich. Man kann ihr nicht vorwerfen, sie hätte nicht versucht, sich abzulenken. Die WG ist geputzt, für die Uni ist auch alles erledigt. Jetzt sitzt sie am Küchentisch, das Handy strategisch mit dem Bildschirm nach unten vor sich gelegt. Aber die Gedanken kreisen trotzdem. »Ich verstehe das einfach nicht. Keine Nachricht, kein Anruf, nichts!«, klagt sie ihrer Mitbewohnerin. »Aber vor allem verstehe ich nicht, warum es mich so stört. Wir hatten doch nur einmal etwas miteinander, warum reagiere ich so?« 

Chemische Gefühle

Das Hormon, das Linas Sonntag gerade so richtig versaut, heißt Oxytocin. Es wird von unserer Hirnanhangdrüse ausgeschüttet, zum Beispiel beim Sex oder Kuscheln. Bekannt ist es deshalb als das »Kuschelhormon«, aber eigentlich ist es an sehr viel mehr Prozessen im Körper beteiligt und hat deutlich mehr Funktionen. Biochemisch gesehen ist Oxytocin ein sogenanntes Peptidhormon. Peptide sind kurze Ketten aus Aminosäuren, den körpereigenen Bausteinen, aus denen auch die Proteine in Muskeln oder Milch bestehen. Man muss keine Ahnung von Chemie haben, um die Struktur von Oxytocin schön zu finden: Ein Gerüst aus Kohlenstoffen und Wasserstoffen. Dazu Stickstoff, Sauerstoff, und zwei miteinander vernetzte Schwefelatome. Die Hauptelemente des Lebens. Dieses Molekül ist Liebe in reiner Form.

Was macht Oxytocin mit uns?

Liebe. In reiner Form. Zumindest, wenn man Liebe mit Bindungen gleichsetzt. Das ist nämlich die Hauptfunktion von Oxytocin: Es ist ein Bindungshormon. Und seine Wirkung begleitet uns seit der ersten Minute unseres Lebens. Oxytocin wird bei Gebärenden während der Geburt ausgeschüttet. Es verursacht Wehen und stimuliert die Milchabgabe. Und es erzeugt eine Bindung zum Baby. Neugeborene Kinder sind schrumpelige, krebsrote, kreischende Zwerge. Niemand mit klarem Kopf würde sie als süß bezeichnen. Warum finden dann frischgebackene Elternteile, dass ihr Baby das niedlichste auf der ganzen Welt ist, wenn nicht sogar der gesamten Menschheitsgeschichte? Man könnte fast sagen, sie sind auf Drogen. Das bei der Geburt ausgeschüttete Oxytocin bindet sie an ihr Kind, lässt sie diese große, bedingungslose Liebe spüren, von der Eltern so gerne reden. Die »Warte mal, bis du selbst Kinder hast, dann wirst du das verstehen«-Liebe. Natürlich ist das evolutionär gesehen eine geniale Strategie. Babys sind hilflos, es wird noch Monate dauern, bis sie überhaupt selbstständig gehen oder essen können. Kinder sind viele Jahre darauf angewiesen, dass sich Erwachsene um sie kümmern. Geliebt zu werden, ist die einzige Chance eines Neugeborenen, zu überleben.

© Zeichnung von canny, Chemische Formel von Oxytocin.

Ein lebenslanger Begleiter 

Danach begleitet uns Oxytocin durch unser gesamtes Leben. Und zwar nicht nur in der romantischen Liebe und beim Sex. Auch bei platonischen Beziehungen wie Freundschaften und anderen sozialen Interaktionen mischt es mit, fördert Bindungen und stärkt das Vertrauen. Letztendlich ist dieses Allround-Hormon bei allem beteiligt, was sich nett und wohlig anfühlt. Egal, ob ihr eure Freund:innen umarmt, eine Katze streichelt, euer Lieblingsgericht esst oder euch ins warme Bett kuschelt, euer Gehirn gönnt euch dabei eine schöne Ladung Oxytocin.

Wie stark kann Oxytocin wirken?

Forschende konnten zeigen, dass Oxytocin Xenophobie reduzieren kann. In einem Experiment aus dem Jahr 2017 von Forschenden um Nina Marsh bekamen Versuchspersonen 50 Euro, die sie an verschiedene bedürftige Menschen mit der eigenen Nationalität oder mit Fluchtgeschichte spenden konnten. Menschen mit rassistischer Grundhaltung spendeten deutlich häufiger Geld an Geflüchtete, nachdem sie ein Nasenspray mit Oxytocin verabreicht bekamen – und eine Auflistung über das Spendenverhalten anderer Personen. Ist rechte Gewalt also tatsächlich nur ein stummer Schrei nach Liebe, wie die Band »Die Ärzte« singen? Die Forschenden erklären diese Verhaltensänderung damit, dass das Hormon eine Anpassung an soziale Normen bewirkt. Free Hugs sind wohl trotzdem keine gute Strategie im Kampf gegen Rechts. Das Experiment zeigt dennoch, wie tief Oxytocin in Verhaltensmuster eingreift.

Die Wirkung hält nicht ewig 

Ein leises »Ping« ertönt, und Lina strahlt. Eine Nachricht, endlich! Vermutlich flutet gerade ein neuer Stoß Oxytocin ihre Adern, unser Gehirn arbeitet schließlich unermüdlich. Vielleicht ist es einer der großen Irrtümer unserer Zeit, dass sich Sex und Gefühle komplett trennen lassen. Das ist kein spießbürgerlicher CDU-Take à la »die Jugend von heute ist doch komplett vermurkst und beziehungsunfähig«. Sex und romantische Beziehungen können – aber müssen definitiv nicht – Hand in Hand gehen. Aber wir sind nun einmal dafür gemacht, einander lieben zu wollen – Oxytocin sei Dank. Die gute Nachricht: Das macht uns noch lange nicht zu Marionetten unserer Hormone. Die Wirkung von Oxytocin hält nicht ewig. Im Blutplasma sinkt der ursprünglich freigesetzte Oxytocingehalt bereits nach drei bis zwanzig Minuten um die Hälfte. Das ist sehr kurz. Vielleicht würde es uns auch deshalb guttun, besser zu wissen, wie das Bindungshormon funktioniert. Dass es nach Sex, Kuscheln oder einer intensiven gemeinsamen Zeit dieses Oxytocin-High gibt, aber dass es auch schnell wieder abflacht. Dass das Vermissen eine chemische Reaktion unseres Körpers ist, die bald verschwinden wird, wenn wir ihr nicht nachgehen wollen.

Der Spitzname »Kuschelhormon« unterschlägt die gewaltige Bedeutung, die Oxytocin für unser Zusammenleben hat. Es ist nicht nur ein fieses kleines Hormon, das dich deinen One-Night-Stand vermissen lässt. Oxytocin lässt deine Freundschaften entstehen, lässt dich Beziehungen zu deinen Mitmenschen aufbauen und halten, lässt dich dein Baby lieben und hält mit all dem letztendlich unsere Gesellschaft ein Stück weit zusammen. Ein echtes Allround-Talent eben.

Gastautorin Birte Wulfes

Birte Wulfes ist Wahlberlinerin und war in der Schule Liebling ihrer Deutschlehrer:innen – jedenfalls nach eigener Aussage. Studiert hat sie dann aber doch Biochemie und Lebensmittelchemie in Berlin und Karlsruhe. Dem Schreiben bleibt sie trotzdem treu und plaudert als Gastautorin für canny aus dem naturwissenschaftlichen Nähkästchen.

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