Nein man, ich will noch nicht geh’n!
Unsere Gastautorin hatte alles für ein Auslandssemester in ihrer Traumstadt bereit. Wien ruft – aber Julia Meyer bleibt lieber zuhause. Wie ist es, das Erasmusjahr abzusagen?
Wow, Auslandssemester, das machen nur die Coolen, die ganz Abgeklärten. Sechs Monate einfach so weg? Juckt die alle nicht. Huskyrennen auf zugefrorenen Seen, Pistaziencroissants am Colosseum oder Schwimmen in der lettischen Ostsee. Erasmus ist Lateinisch für ‘alles ist möglich’ (Pi mal Daumen übersetzt, ihr wisst schon, was ich meine). So will ich auch sein.
Wir schreiben letzten November, neue Stadt, neue Uni, keine Beziehung mehr, alle Freund:innen in Deutschland verteilt. Die Uni wirbt mit Erasmus 2024 - Bewirb dich jetzt und das mache ich, ich habe ja schließlich nichts zu verlieren und möchte unbedingt auch so cool und abgeklärt rüberkommen wie alle anderen. (Spoiler, ich bin weder das eine noch das andere.)
Zu dem Zeitpunkt habe ich Lust auf weg-sein: Skandinavien oder vielleicht Schottland oder Portugal, irgendwie so. Aber das geht nicht, die Auswahl für meinen Master ist sehr eingeschränkt und selbst für die meisten Länder am unteren Ende der Rangliste meiner Traumorte muss man fließend in der Landessprache sein, um an den Vorlesungen teilzunehmen. Und auf Französisch fragen zu können, ob ich mal aufs Klo gehen darf, reicht vermutlich nicht aus, um ein ganzes Semester Mastervorlesungen zu besuchen. Wobei…?
Naja, wo kann ich denn dann hin? Okay, Budapest (ist das nicht dieser Radio Song), haut mich irgendwie nicht um… Vancouver, hm sackteuer und wirklich WEIT weg (außerdem gar nicht mehr im Erasmusprogramm, sondern wieder irgendwas noch deutlich komplizierteres, ne, gar keinen Bock drauf)... Bern, hm ich bin nicht so der Käse-Fan.. und achja: Wien.
Inhalt sämtlicher Lobeshymnen, der Inbegriff von Da gibt es schöne Häuser, Traum meiner schlaflosen Nächte und nicht umsonst Platz eins der höchsten Lebensqualität (weltweit!). Nicht so weit weg, dass man nicht mal jemanden besuchen kann, aber weit genug weg, um…naja…weg zu sein. Und natürlich wunderschön. Klingt doch gut, oida.
Das Bewerbungsschreiben an sich fällt mir nicht schwer, seit meinem ersten Besuch in Österreichs Angeberstück von Hauptstadt im Sommer 2021 habe ich, ja man könnte es so nennen, einen massiven Crush auf diese Metropole. Ich überlege mir, ein Erasmussemester ist doch perfekt, um dort mal “probezuwohnen”. Mühelos rotze ich ohne viel zu überlegen die größte Liebeserklärung an eine Stadt hin, die man sich vorstellen kann. Jedes Wort ist wahr, Wien is leiwand, beim Schreiben schmecke ich Sachertorte und Spritzwein und erträume mir…ja was genau eigentlich? Egal, nicht drüber nachdenken, ich schicke ab und bin mir sofort sicher, den Platz bekomme ich.
Wochen später, Kommiliton:innen und Mitbewohner:innen sind aufgeregt, die Ergebnisse müssten heute kommen. Und oh Wunder – es hat geklappt. Am 18. Januar diesen Jahres schreibe ich meinem besten Freund: Hab den Platz fürs Wintersemester bekommen, ich freu mich irgendwie gar nicht haha. Wird schon noch kommen, dachte ich. Haha.
Mai, Frühsommer, meine Stadt lebt endlich. Zwischen Picknick und Campus, zwischen Vorlesungen bei Dozierenden, die ich irgendwie nicht hasse und sich vorsichtig annähernden neuen Freundschaften fühle ich mich doch plötzlich irgendwie sehr zuhause in meiner für tot geglaubten Kleinstadt. Ich bin oft hier, ich bin oft bei meiner Familie zwei Stunden entfernt und oft bei meinen Freund:innen aus dem Bachelorstudium. Deutschlandticket sei Dank (Keine bezahlte Werbung, leider.) Ich habe gerade alles, es geht mir gut, ich fühle mich zum ersten Mal seit über einem Jahr angekommen.
Juni, ich habe über Freund:innen sehr unkompliziert ein WG-Zimmer in Wien gefunden: hübsch, gut gelegen, Preis-Leistung unschlagbar. Ich musste mir nicht mal Mühe geben. Aber ich freue mich immer noch nicht. Aber das kommt noch, ganz bestimmt. Hat ja noch Zeit.
Mitte Juli, ein Freund aus meinem Bachelor bekommt einen Studienplatz in meinem Master. Er kommt zu Besuch und hat wenig später seine Zusage in einer WG nicht weit von meiner. Ich freue mich riesig, nachdem zwei gute Freundinnen sich entschieden haben, das Studium nicht fortzusetzen, endlich alte Gesichter in der neuen Stadt. “Das wird voll cool, wenn du dann hier bist” …und ich nicht.
Ende Juli, meine Mitbewohnerin zieht aus. Ich bekomme Krisen-Flashbacks aus meinen vier oder fünf Umzügen letztes Jahr. Kisten, Mülltüten, tausendmal Hin-und Hergehen, mehr Kisten. "Puh, da hätte ich jetzt keine Lust drauf”, sag ich zu mir selbst und bemerke im selben Moment den Fehler. Ich sitze in meinem sehr liebevoll tot dekorierten Zimmer mit der proppenvollen Kleiderstange, an der ich meinem Vater versprochen hatte, nur zwei bis drei leichte Kleider und Hemden zu hängen, und da höre ich mich das erste Mal deutlich denken: Ich. Will. Nicht. Weg.
Anfang August, ich bin im Urlaub und arbeite erstmals eine Woche remote für meinen neuen Job, ich dürfte ihn sogar weiterführen während des Erasmus. Aber ich gehe irgendwie plötzlich ganz gern zur Arbeit. Kann man’s glauben? Ich schiebe zum circa 14. Mal die iPhone-Erinnerung Kurse wählen Wien um eine Woche nach vorn, auf einen Zeitpunkt, an dem hoffentlich nichts im Kalender steht und ich mental genug Kraft habe, mich dem Thema anzunehmen. Aber dieser Zeitpunkt kommt nicht. Die Erinnerung ploppt eine Woche später wieder auf und diesmal nehme ich mir die Zeit. Ich schaue lange auf die Kursliste und fange an zu weinen.
Mitte August, Psychotherapie. Ich zähle möglichst schnell alles auf, Zeit ist Geld, erzähle von neuen und alten Freundschaften, neuer Job macht Spaß, ich liebe meine WG und mein Zimmer, will keinen Neuanfang, wenn ich wieder da bin, muss ich nur noch die Masterarbeit schreiben und dann SCHON WIEDER umziehen, Sie wissen schon. Schwer atmend höre ich auf, zu reden und meine Therapeutin schaut mich lange an. Sie sagt: Aber…welchen Grund gibt es dann überhaupt noch für Sie, zu gehen?
Und mir fällt außer der Tatsache, dass ich mich vor der Uni und vor meinem Vergangenheits-Ich verpflichtet fühle, keiner ein.
Irgendein Dienstag, Ende August, irgendwas nach 20 Uhr und einem Tag aus der Hölle. Alles zu viel, und da ploppt sie wieder auf, diese Erinnerung. Ich atme dreimal tief ein…und aus…und ein…und aus…und ein…und aus. Es reicht. Heute mach ich’s. Und dann hab ich’s gemacht…und mein Erasmus abgesagt. Einfach so. Und irgendwie, ganz unerwartet, habe ich nicht Feuer gefangen und die Erde hat sich weitergedreht. Ich wurde nicht mit Fackeln von der Uni vertrieben und auch meine coolen Erasmus-hinter-sich-habenden Freund:innen sind mir nicht auf Instagram entfolgt.
Man stelle sich vergleichsweise mal vor, ich hätte mir ein Jahr vorher eine Jacke für das morgige Datum ausgesucht und müsste diese dann auf Krampf anziehen. Das wäre furchtbar, denn morgen werden es schon wieder 29 Grad. Und überhaupt ist es doch absurd, etwas anzuziehen, was überhaupt nicht mehr passt, nur weil man sich das irgendwann mal vorgenommen hat, oder? Ich bin auf viel Verständnis gestoßen, manche haben sogar gesagt, sie sind stolz auf mich, so auf meinen Körper und mein Bauchgefühl zu hören. Und ich bin auch stolz auf mich, ich denke, ich bin vielleicht doch nicht mehr oder weniger cool, vielleicht ist es auch gerade cool, sich mal kurz angekommen zu fühlen. ErasKann, nicht ErasMuss.
Alles in allem vertraue ich auf den guten alten Billy Joel und hoffe inständig, dass er nicht lügt, wenn er sagt Vienna waits for you – denn das tut es (Was soll es auch sonst machen?) sicher auch auf mich.