Berlin, Baby!
Social Media Erzählungen über das Leben in Berlin gibt es viele. Junge Leute, volle Straßen, in der Sommersonne funkelt der Aperol und Jungle‘s Back On 74 spielt im Hintergrund. Zeit für einen Blick hinter die Kulissen.
Auf der A9 ist nichts los auf dem Weg nach Berlin. Im sechsten Gang bei 5000 Umdrehungen schleppen sich mein Bett, mein runder Esstisch, zwei Rattan-Schwingstühle, ein Ganzkörperspiegel und 12 randvolle Kisten über den Asphalt. In der Landeshauptstadt wartet ein 14 Quadratmeter Zimmer auf mich, mit einem 36-jährigen Mitbewohner, den ich noch nie gesehen habe. Ihr könnt euch das vorstellen wie beim Online Dating, nur dass man nach dem schlechten Smalltalk nicht nach Hause geht, sondern halt zusammen zieht.
Bei meinem Einzug ist mein Mitbewohner in Spe gar nicht da und anders als abgesprochen, steht er um zwei Uhr nachts vor seiner von innen abgeschlossenen Haustür und klingelt mich wach. Unsere erste Begegnung ist in altrosa Schlafa-Hose und loser Zahnspange, also ich, was er anhatte, weiß ich nicht mehr.
Die Wohnung ist nicht sonderlich groß und überhaupt nicht neu, ich habe eine Ahnung, dass die Miete, die ich monatlich an den Hauptmieter abtrete, viel zu hoch ist. Lange nachdenken kann ich darüber jedoch nicht. Denn mein Mitbewohner ist leidenschaftlicher Clubgänger und hat im Anschluss gerne leidenschaftlichen Sex eine Rigipswand von mir entfernt. Die Ü35 Männer, die bei uns ein- und ausgehen, sind mit dem Konzept Klobrille genau so wenig vertraut wie ich mit meinem Mitbewohner. Es scheint, als hätte er ein Herz für Touris – so erkläre ich mir zumindest, dass manche Besucher einen kleinen Sportrucksack dabeihaben, wenn sie ausgehen und nach Sonnenaufgang dann bei uns in der WG landen.
Nachts um drei wird zu Jazz Musik bei offener Tür gekocht, manchmal sprechen wir Tage lang nicht miteinander. Zweck-WG wäre ein Euphemismus für die Wohnraum-gegen-Geld-Symbiose, die er und ich gemeinsam bilden.
Die ersten Monate Berlin sind ein Rückschlag, aber aufgeben ist was für Leute, denen irgendwann das Selbstmitleid ausgeht, also nichts für mich. Nach drei Monaten Feuertaufe im sonst so angepassten Prenzlauer Berg packe ich wie die peinliche Spießerin, die ich nun einmal bin, meine sieb(zehn) Sachen und ziehe nach Spandau. Es gibt Leute da draußen, die euch weismachen wollen, dass Spandau nicht zu Berlin gehört. Vom Lebensgefühl mag das leider stimmen, geografisch ist es aber falsch. Ich wohne also immer noch in Berlin. Zwar eine Stunde zwanzig von meiner Hochschule, vierzig Minuten vom Büro und vierzig Minuten von meinen Freund:innen entfernt, aber in Berlin!
In Spandau erwartet mich eine okaye Mitbewohnerin und ein bezahlbares Zimmer. Zwei Monate lang habe ich das Gefühl, dass das schon Ordnung ist. Bis mein auf die 40 zurasender Nachbar von seinen Gefühlen übermannt wird und mir einen Strauß Blumen vor die Tür legt. Seine Wohnung liegt im Innenhof direkt gegenüber. Sein Schlafzimmer vis-à-vis von meinem, die Küchenfenster auf einer Höhe.
Der Strauß ist keiner von denen, die es bei REWE für 3.99 gibt, sondern so einer, den man Tante Ursula zum 60. schenkt und vorher beim Floristen bestellt. Aus roten und weißen Rosen, mit Hagebutten verziert. Ich dachte immer man macht aus den Dingern Früchtetee und keine Avancen an deutlich jüngere Frauen, aber man lernt nie aus. Die beiliegende Grußkarte transportiert die Überlegung, vielleicht mal auf einen nachbarschaftlichen Kaffee zu gehen, in kindlicher Handschrift. Dem nonchalanten Deckmantel der Nachbarschaft gelingt es nicht, den dekadenten Strauß vergessen zu machen: Leider lässt mich die Nacht-und-Nebel-Aktion um 22 Uhr abends in meiner neu gewonnenen Privatsphäre nicht geschmeichelt, sondern unwohl fühlen. Vielleicht ist es auch das schwere Parfüm, das am Strauß zu kleben scheint und sich in der Küche breit macht. Es ist die Art von Duft, die sagt: Ich manspreade in der U7. Die gekaufte Karte mit Alles liebe auf der Vorderseite hängt unterm Korsika Magnet am WG-Kühlschrank, aber nur solange, bis meine Mitbewohnerin und ich den Geruch nicht mehr ertragen und die Karte in den Papiermüll segelt. Mein Verehrer und ich haben noch nie gesprochen, auf der Straße würde ich ihn zwar nicht erkennen, aber definitiv erriechen. Zum Glück brauche ich mein Strandhandtuch im Dezember kaum, denn von nun an ziert es das Küchenfenster, sobald es draußen dunkel ist.
Nicht nur, aber auch wegen der langen Fahrtwege downloade ich mir wieder WGgesucht, die Smartphone-Applikation, die direkt aus der Hölle kommt und gebe mich meinem Schicksal hin. Ein paar Tage später finde ich mich am runden Tisch einer Bäckerei wieder, den ich mir mit zwei jungen Männern teile. Das WG-Casting konnte nicht in der WG stattfinden, weil die beiden selbst erst nächste Woche umziehen und jedes coole Café, oder auch jedes herkömmliche Café, war bereits voll bis oben hin.
Bei Quarkbällchen und Filterkaffee erzählt Leander dann davon, wie er sich in sein Studium klagte, welches er nach einem Semester wieder abbrach. Davon, wie seine Eltern die Mieter:innen wegen Eigenbedarf aus der Wohnung klagten, die jetzt zu der WG wird, für die ich gecasted werde (Spoiler: Ich schaffe es in den Recall!). Ich weiß, was ihr jetzt denkt, aber nee. Kein BWL, sondern Soziale Arbeit!
Auf meine Absage folgt glücklicherweise keine Klage, nur die Nachfrage, ob ich auch nicht in das 8,5 Quadratmeter Zimmer für 600€ kalt ziehen möchte, wenn ich Stauraum aus dem Wohnzimmer nutzen kann. Es tut mir leid Leander, es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Meine traurige Existenz passt in kein Kallax-Regal dieser Welt.
Die Wochen in Spandau ziehen ins Land, ImmoScout und WGgesucht reihen sich neben Maps und YouTube bei meinen Browser Favoriten ein. Mein Verehrer schmeißt das Handtuch (ohne um mich zu kämpfen??) als er im Treppenhaus liest, dass meine Mitbewohnerin und ich beide in festen Händen sind. Jene festen Hände, die Männer erfahrungsbedingt davon abhalten, ein unübersehbares Nein zu übersehen.
Diese Geschichte hat ein Happy End! Aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt meldet sich nach einem Dreivierteljahr und vielen verdrängten Erinnerungen mein alter Mitbewohner aus Prenzlauer Berg. Zwar ist es im Vertrag eindeutig gegenteilig geregelt, dennoch verlangt er eine Nachzahlung und schickt mir Bilder von einer Abrechnung aus 2022, obwohl ich in 2023 bei ihm gewohnt habe. Auf der Abrechnung sehe ich, wie viel die Wohnung monatlich insgesamt kostet.
Ich bin bald Mitte zwanzig, deswegen kläre ich das wie eine Erwachsene und schreibe Du A**** lässt mich 600€ deiner 600€ Kaltmiete zahlen und willst jetzt noch eine Nachzahlung von mir? Mit deinem Sch**** habe ich nichts mehr zu tun. Er will das nicht über‘s Telefon klären, weil ich mit meiner Reaktion seine Gefühle verletzt habe. Er droht mir mit einem Anwalt, ich blockiere ihn und höre von keinem Anwalt.
Irgendwann später öffne ich nachmittags gedankenverloren den Briefkasten und halte einen DIN lang quer Umschlag in den Händen, dessen Fenster das Wort Staatsanwaltschaft und meinen Namen erkennen lässt. Mir rutscht das Herz bis zu meinen Trendtretern, die mir plötzlich viel zu teuer vorkommen, jetzt, wo ich bald knietief in einen Rechtsstreit verwickelt sein würde. Mein Körper beginnt in Millisekunden mit der Schweißproduktion. Ich öffne den Umschlag und meine Augen wandern an der Calibri in Größe 12 entlang. Sehr geehrte Frau Quell, die eingeleiteten Ermittlungen haben bisher nicht zur Feststellung des Täters geführt. Das Verfahren ist daher eingestellt worden. Dann dämmert es mir. Vor Monaten hatte ich einen Trottel von ImmoScout angezeigt, der sich am Telefon als erkältete Frau ausgibt, um verzweifelte Wohnungssuchende abzuziehen. Aber nicht mit mir! Zweitname Law, Drittname Order. Ich gehe hoch, ziehe mir ein trockenes Oberteil an und daddele am Handy, bis sich mein Puls senkt.
Das Happy End kommt überraschend und unverhofft in Form einer eigenen Wohnung in Kreuzberg. Es ist eben doch so wie alle sagen! Es braucht nur ein wenig Glück (, mehrere hundert Euro im Monat, einen deutschen Namen und gute Beziehungen) für das traute Heim in Berlin.
30 Quadratmeter waren noch nie so großartig.