Weibliche Erfahrung in der Literatur

Der Hype um „Die Schönste Version“ von Ruth-Maria Thomas beweist endgültig, dass weibliche Erfahrungswelten in der Literatur unterrepräsentiert sind. Wieso haben so viele auf dieses Buch gewartet?

Buchtitel von Die Schönste Version von Ruth-Maria Thomas

©Toni Quell

Titten, Muschibrösel, Provinzassis, so schreibt sich Ruth-Maria Thomas in die Bestsellerlisten. Über Die schönste Version stolpert man im Eingang der Buchhandlungen auch noch ein Dreivierteljahr nach Veröffentlichung. Wer sich das Debüt der Autorin nicht selbst kauft, bekommt es von Freundinnen geliehen oder zum Geburtstag geschenkt. Auf keinem Bewertungsportal liegt Die schönste Version unter vier Sternen. Das Internet scheint immer noch nicht über dieses Buch hinweg. Was geht da vor sich?

Weiblichkeit in Literatur

Mit Frauen in der Literatur verhält es sich ein bisschen wie mit Frauen in Pornos. Weil sie ständig darin vorkommen, könnte man fast meinen, es gehe um sie. Aber Weiblichkeit in der Literatur ist immer noch kein Selbstzweck, sondern meist ein Mittel zum Zweck. Das Mittel, um einen Helden auf eine Reise zu schicken. It takes a dead woman to send a man on his journey, so das Sprichwort. Frauen sind das Mittel, um über Begehren zu sprechen, über Gefühle, über Schönheit und Hässlichkeit. Frauen sind ein Mittel, um über Männlichkeit zu sprechen, denn Männlichkeit erschöpft sich meist aus der Abgrenzung zum Weiblichen. Frauen sind in Büchern omnipräsent – davon sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen. Nur weil Frauen in Literatur häufig vorkommen, heißt das nicht, dass sie mit ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Wahrheiten tatsächlich darin stattfinden.

Bücher wie Frauenliteratur von Nicole Seifert und Schreibtisch mit Aussicht von Ilka Piepgras machen es deutlich: Während männliche Protagonisten auf Hunderten von Seiten die Chance erhalten, ihre Gefühlswelt einmal von innen nach außen zu krempeln, die Lesenden zwingen, sie auf ellenlange Wanderschaften und Selbstfindungsreisen zu begleiten, ungelöste Konflikte mit dem Vater oder den Kindern zu entwirren, ihre Sexualität zu entdecken, werden genau diese Art von persönlichen Erfahrungen bei Frauen als uninteressant, privat und irrelevant abgetan. Das weibliche Leben mit seiner – so die teils noch bestehende Annahme – Häuslichkeit, Weichheit, Eingeschränktheit hat in der Literatur nichts zu suchen.

Werke von nicht-männlichen Autor:innen schaffen es kaum in die Kanons. Sie werden vergessen, manchmal wiederentdeckt, um dann wieder vergessen zu werden. Sie werden weniger vermarktet oder sie werden gar nicht erst geschrieben, weil Frauen mit ihren Care-Verpflichtungen einen anderen, schlechteren Zugang zu Freizeit, Kreativität, Geld und damit Freiheit zum Schreiben haben. Frauen schreiben weniger über „Frauenthemen“, weil es nicht prestigeträchtig ist oder weil sie damit in einer Schublade enden, die den roten Stempel Frauenliteratur trägt.

Vielleicht lässt Die schönste Version deswegen Kinnladen runterklappen. Die Geschichte drängt sich mit intimen, weiblichen Erfahrungen auf, auch mit den hässlichen, vulgären oder peinlichen. Ruth-Maria Thomas nimmt kein Blatt vor den Mund, spart nichts aus und macht das öffentlich, was Frauen sonst mit sich selbst ausmachen. Die Geschichte ist für viele relatable und damit ein Mittel gegen die Wut und das Alleinfühlen.

Viele mutige FLINTA* Autor:innen haben sich das schon getraut. Besonders marginalisierte Menschen wie Women of Color, Frauen mit Migrationsgeschichte oder Queers ebnen damit einen Weg zu mehr Erfahrungsvielfalt in der Literatur. Selten jedoch schaffen es diese Bücher in den Mainstream. Bei Die schönste Version ist das anders. Die Geschichte wurde viel beachtet und besprochen, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die Protagonistin weiß, cis und hetero scheint. Damit gehört sie der Mehrheitsgesellschaft an und macht die Geschichte für ein breiteres Publikum relevant. Das soll das Schaffen von Ruth-Maria Thomas nicht kleinreden, vielmehr geht es um das Hoffen auf noch viele weitere Werke dieser Art, die die Vielfältigkeit weiblichen Erlebens abbilden. Weibliche Erfahrungswelten sind in der Literatur unterrepräsentiert und der Hype um Die schönste Version liefert den Beweis dafür.

Buchcover von Die Schönste Version von Ruth-Maria Thomas

©Toni Quell. Unsere Autorin ist begeistern von Ruth-Maria Thomas’ Debütroman. Endlich echte weibliche Erfahrung in der Literatur und im Mainstream, freut sie sich.

Die emotionale Gewohnheit der Verachtung

In Gegen Frauenhass rekonstruiert die Autorin Christina Clemm einen Femizid. Sie beschreibt den typischen Verlauf von häuslicher Gewalt an Frauen: Ein Mann schüttet eine Frau mit Liebe zu, bindet sie an sich, macht sie emotional abhängig, fängt an, sie zu kontrollieren, ist eifersüchtig, schottet die Frau von Familie und Freunden ab. Später, wenn der Mann gewalttätig wird, hat die Frau kein Netzwerk mehr, an das sie sich wenden kann. Die toxische Beziehung ist alles, was sie hat. Oder, wie es Jella, die Protagonistin in Die schönste Version formuliert: Er war mein Leben. Wie soll ich mein Leben aufgeben?

Auch Die schönste Version findet ihren tragischen Höhepunkt in einem körperlichen Angriff auf die Protagonistin. Ihr Partner Yannick würgt sie und schneidet ihr die Luft ab, solange, dass sie panisch um ihr Leben fürchtet. Wie konnte es soweit kommen? Die Autorin macht es deutlich und fängt dabei schon weit vor der eigentlichen Beziehung an. Jella sammelt ihre ersten sexuellen Erfahrungen, in denen ihre Gefühle und Bedürfnisse keinerlei Rolle spielen. Die Männer, mit denen sie schläft, kümmern sich nicht um Verhütung und Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Sie erhält eine Standpauke vom großen Bruder eines Klassenkameraden, Letzterem habe sie schöne Augen gemacht. Zahlreiche Begegnungen, bei denen sie zu hören bekommt, dass sie sich nicht so anstellen soll. Und zu allem übel: ein Bekannter aus dem Dorf, der ihr Nein übergeht, sie vergewaltigt und im Nachhinein nicht einmal davon weiß, geschweige denn Konsequenzen erfährt.

Die Geschichte von Protagonistin Jella und ihrem festen Freund Yannick wird als Geschichte über Partnerschaftsgewalt gehandelt. Das stimmt, und dennoch ist das nur die Spitze des Eisbergs. Die Lesenden begleiten Jella durch ihre Teenagerjahre bis zu ihren Zwanzigern und schreiben mit ihr eine lange Liste an Grenzüberschreitungen. Das Buch ist der Gewaltpyramide zum Verwechseln ähnlich, in der physische Gewalt auf einem breiten Fundament von antifeministischen Überzeugungen, Mikroaggressionen und verbalen Übergriffen steht. Jellas Geschichte ist kein Einzelfall, sondern das Abbild einer Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen in ihren Grundsätzen toleriert.

In den Bewertungen zum Buch werden Lesende später schreiben, dass Jella nicht zum Aushalten ist, wieso erkennt sie ihren Wert nicht? Aber wie soll Jella ihren Wert erkennen, wenn ihr von früh auf weisgemacht wird, dass ihr Erfahrungsschatz keinen Wert hat? Ruth-Maria Thomas gelingt es, das was Christina Clemm die emotionale Gewohnheit der Verachtung nennt, lebendig und nachvollziehbar zu machen. Jene, die Die schönste Version wütend macht, sollten ihren Frust nicht an der Protagonistin auslassen. 

Abfotografiertes Autorinnenbild von Ruth-Maria Thomas vom Buchumschlag

©Toni Quell

Das gute Mädchen als Überlebensstrategie im Patriarchat

Das, was beim Lesen übel aufstößt, überträgt man in einem schwachen Moment gern auf die Protagonistin. Wieso lässt Jella sich nur auf solche Typen ein? Wieso erzählt sie niemandem von der Vergewaltigung? Wieso steht sie nicht für ihre Bedürfnisse ein!

Jella wächst in den 2000ern auf, zwischen Bravos, die ihr erklären, wie man Männern gefällt und Männern, die keinerlei Rat an die Hand bekommen, wie man Frauen gefällt. Um in einer patriarchalen Gesellschaft zu überleben, macht Jella es wie viele andere Frauen auch und greift auf das gute Mädchen als Überlebensstrategie zurück. Das gute Mädchen kennen wir spätestens seit Toxische Weiblichkeit, dem Sachbuch von Sophia Fritz. Das gute Mädchen versucht sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten möglichst unauffällig anzupassen, sich wegzuducken, die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen, kein Aufsehen zu erregen. Denn Frauen, die Aufsehen erregen, werden vom Patriarchat dafür mit Beschämung bestraft. Kein Wunder also, dass Jella ihrem Macker nicht sagt, dass er sich gefälligst auf Geschlechtskrankheiten testen lassen soll oder, dass Jella ihre beste Freundin plötzlich im Stich lässt, als diese von einem Bekannten begrapscht wird. Jella wählt den Weg des geringsten Widerstands. Kann man ihr das verübeln?

Mit Fragen wie dieser bleiben die Lesenden zurück. Die Autorin hat es sich nicht leicht gemacht: Einige Züge der Protagonistin haben durchaus etwas toxisch Weibliches an sich. Zum Beispiel, wenn Jella Hackfleisch in die Lasagne ihres vegetarischen Freundes mischt oder an seiner Staffelei heimlich Schrauben lockert. Mit den Gemeinheiten versucht sie, sich der ständigen Kontrolle ihres Freundes zu entziehen. Es ist eine kleine Rebellion gegen die Ohnmacht. Beim Lesen sieht man sich mit dem eigenen guten Mädchen konfrontiert, das ununterbrochen fragt, wie finde ich das?

Eine Geschichte, die die Nullerjahre überdauert

Mädchen, die in den 2000ern zu Frauen heranwuchsen, scheinen sehnlichst auf ein Buch dieser Art gewartet zu haben, die Resonanz ist außergewöhnlich. Dem Buch wird nachgesagt, es sei die Stimme einer Generation. Und es stimmt! Die Lana Del Rey Lines, die Bravo-Ausschnitte, die Kleinstadt, die Art von bester Freundinnenschaft, in der man sich gegen die Welt verschwestert, die Röcke, die die jungen Frauen zum Ausgehen tragen, Jellas Kinderzimmer, ihr Abiballkleid – all das fühlt sich an wie damals.

Während sich der Partylook aus Nylonstrumpfhose und Rock nicht sehr galant in die Neuzeit gerettet hat, haben wir Männer wie Yannick nicht in den 2000ern gelassen. Vielleicht sind männliche Machtbemühungen in vom Feminismus geprägten Zeiten subtiler geworden, verschwunden sind sie keinesfalls.

Yannick, der gewalttätige Freund der Protagonistin, ist diese Sorte Mann, die sich über Intellekt und vermeintliche Aufgeklärtheit ermächtigt. Er würde von sich sagen, dass er nicht einer dieser Proleten ist. Von Letzteren grenzt er sich beispielsweise ab, indem er Männer, die Fußball mögen, schlecht redet. Yannick sieht sich selbst im Gegensatz zu dieser peinlichen Sorte Mann – er, der Künstler ist, er, der einen Zugang zu seinen Gefühlen hat (er, der unpassenderweise in Tränen ausbricht, als Jella ihm von ihrer Vergewaltigung erzählt).

Worin Yannick den meisten vom Patriarchat erzogenen Männern jedoch in nichts nachsteht, ist seine Besserwisserei, seine Sturheit, sein Besitzanspruch, kurz: er muss immer am längeren Hebel sitzen. Sobald er es ist, der erniedrigt wird, verliert er die Kontrolle. Er bevormundet seine Freundin, erklärt ihr ihre Gefühle. Er mag sie am meisten, wenn sie schön und brav ist, wenn sie nicht zu viel oder zu laut ist. Genauso wie die meisten Männer Frauen eben mögen. Yannick ist nicht der, für den er sich selbst hält, er ist ein absolut durchschnittlicher Mann.

Die Figur ist ein gutes Beispiel dafür, wie Männer Macht und Kontrolle ausüben, ohne dabei ihren aufgeklärten Anstrich zu verlieren. Das ist keinesfalls ein Relikt aus den 2000ern, sondern patriarchale Realität. Hätte es Hinge schon in den Nullerjahren gegeben, hätte die Protagonistin Yannick sicher dort kennengelernt. Die schönste Version ist zeitlos. Leider.

Weiter
Weiter

Feministische Rechtsberatung: Diese Frauen packen an